Noch schöner als das Sammeln von alten Schnittmustern ist das Nähen von alten Schnittmustern! In diesem Beitrag werde ich mal wieder ein Vintagekleid nähen, nach einem Original-Schnittmuster aus dem Magazin „Die Frauenarbeitsschule“ von 1957.

Das Schnittmuster

Das Schnittmuster für dieses Kleid stammt aus dem Magazin „Die Frauenarbeitsschule“ von 1957. Dieses DIY-Magazin, das von den Dreißigerjahren bis in die späten Siebzigerjahre gedruckt wurde, ist auch in den Kreisen der Sammler von Vintage-Schnitten eher unbekannt.

Im Fiftiesmuseum Kapsweyer entdeckte ich letztes Jahr einen ganzen Stapel dieser Magazine und bekam die Erlaubnis, ein paar Schnitte daraus nachnähen zu dürfen. Das Museum hatte die Hefte von einer alten Dame gestiftet bekommen, aber auch dort war nur wenig über das Magazin und seine Herkunft bekannt.

„Frauenarbeitsschule“ – Arbeitslager für gefallene Mädchen?

Der Titel des Magazins mutet aus heutiger Sicht schon etwas grausig an – Tatsächlich handelte es sich bei den sogenannten „Frauenarbeitsschulen“, die bereits ab 1870 in Baden-Württemberg gegründet wurden nicht um Arbeitslager für gefallene Mädchen, sondern um Fachschulen, die Frauen und Mädchen einen anerkannten Schulabschluss und eine Berufsausbildung ermöglichen sollten. In einer Zeit, in der die meisten Frauen – wenn überhaupt – nur unterbezahlte Aushilfskräfte sein konnten, war das durchaus ein revolutionärer Gedanke. Leider waren die Möglichkeiten der Berufswahl für Frauen damals sehr eingeschränkt, weswegen an diesen Schulen lediglich in den Bereichen Handarbeit und Hauswirtschaft ausgebildet wurde. Aber das war zu dieser Zeit schonmal besser als nichts. Außerdem boten die Schulen Kurse im Bereich DIY und Hauswirtschaft für Hausfrauen an.

Aus heutiger Sicht ist das Rollen- und Geschlechterbild, das diese Schulen vermittelten, sowie ihre Instrumentalisierung im dritten Reich natürlich absolut nicht mehr tragbar. Daher sind die Texte aus den Ausgaben der Fünfzigerjahre, die sich noch an die „gute Hausfrau“ richten, nicht mehr wirklich lesenswert.

Siehe bunkerbooks.weebly.com für mehr Infos.

Das Magazin

Das Magazin erschien erstmalig in den Dreißigerjahren und richtete sich an die Schülerinnen der inzwischen zahlreichen Frauenarbeitsschulen. Es enthielt nur wenig Werbung, dafür viele Schnittmuster, Stick- und Strickmuster und Anleitungen rund um Deko, Haushalt, Upcycling und alles was man sonst noch selber machen konnte. Die gezeigten Beispiele sind größtenteils Werke der Schülerinnen der Schulen, die auch selbst in ihren handgenähten Kleidern für das Magazin modelten. Daher sind sowohl die Models als auch die Fotos sehr authentisch und vermitteln einen guten Eindruck davon, wie die Mode der damaligen Zeit wirklich ausgesehen hat.

Ein Kleid in Prinzessform

Nun aber zu dem Schnittmuster. Sieht die junge Frau auf dem Bild nicht toll aus?

Das Kleid hat einen eckigen Halsausschnitt. Es ist sehr tailliert, mit einer eher tief sitzenden Taille, wie sie damals modern war. Die Rüsche am Saum habe ich nicht so umgesetzt wie im Schnitt, da ich für den Saum eine andere Idee hatte.

Der Schnitt nennt sich „Sommerkleid in Prinzeßform“. Heute kennt man die „Prinzessnähte“ in der Schneiderei auch als „Wiener Nähte“. Das sind vertikale Teilungsnähte, die ein Kleidungsstück auf Figur bringen. Sie funktionieren dabei wie bzw. anstelle von Abnähern. Eine Nähanleitung gibt es nicht, nur den Schnittmusterbogen mit den Zeichnungen dazu.

Das Material

Passende Maschinennadel und Handnähnadel, dazu noch Stecknadeln

Die Anpassung des Schnittmusters

Der Schnitt besteht aus 5 Teilen. Er wird – wie damals üblich – in nur einer Größe ausgeliefert, die oberhalb der Zeichnung in Maßen angegeben ist. Dieser Schnitt passt einer Brustweite 88cm und einer Taillenweite von 62cm entspricht ungefähr einer heutigen Größe 34. Für mich bedeutete dies, dass ich mindestens zwei Kleidergrößen hochskalieren musste.

Erste Längenanpassung

Ich habe den Schnitt erstmal so wie auf dem Bogen abgepaust. Dann habe ich die Länge mit einem anderen Schnitt der mir gut passt, nämlich den vom Surplice Dress abgeglichen. Der ist ähnlich konzipiert und ich habe danach die Länge und die Armlöcher des neuen Schnitts angepasst.

Dann habe ich mir den Schnitt an den Körper gesteckt und so die Seitennähte geprüft und den richtigen Standort des Abnähers ermittelt.

Für die Anpassung des Brustbereichs auf meine Körbchengröße habe ich die Technik des Full Bust Adjustments verwendet. Mein Lieblingstutorial dafür, findest Du hier.

Das erste Probeteil

Danach entstand das erste Probeteil. Schultern und Armausschnitt passten bereits sehr gut und auch der Brustteil saß auf Anhieb okay. Am Rücken habe ich noch etwas Weite hinzugegeben und dafür vorne am Ausschnitt noch etwas Weite weggenommen.

Das Vintagekleid nähen

Nachdem der Schnitt anhand des Probeteils korrigiert war, ging es auch schon an den „guten“ Stoff. Nach dem Zuschnitt habe ich direkt die langen Kanten des Kleids mit der Zackenschere versäubert. Auch wenn der Kanten später dank Futter dann versteckt sein würden, wollte ich nicht, dass sie innendrin ausfransen.

Mein kleiner Abnäher-Fail

Hier hatte ich so einen kleinen Frustmoment. Normalerweise haben Abnäher bei Schnittmustern unten so einen kleinen Zacken, damit sie später sauber an die Kante gelegt werden können. Der fehlt allerdings in diesem Schnitt und ich habe auch nicht daran gedacht ihn einzuzeichnen. Deswegen musste ich die Unterbrustnaht ein wenig nach oben versetzen, damit ich den Abnäher darin festnähen konnte

Schrägband an den Kanten

Wie man das Schrägband um die eckigen Kanten annäht, zeige ich Euch in einem seperaten Video, das ich hier verlinke, sobald es fertig ist.

Nahtverdeckter Reißverschluss – Gabs das damals schon?

Ab wann es genau den nahtverdeckten Reißverschluss schon für Hobbyschneiderinnen gab konnte ich nicht genau recherchieren. Erfunden wurde er in der Bekleidungsindustrie wohl bereits in den 40er Jahren, in den Handel für die Hobbyschneiderei kamen sie wohl aber erst Ende der Sechziger Jahre. 

Im und am Schnitt gibt es keinerlei Angaben dazu, wie das Kleid geöffnet und geschlossen wird. Ich sehe dabei zwei Optionen:

  • Reißverschluss in der Seitennaht, damals vermutlich ein seitlich verdeckter Reißverschluss. Nicht ganz so unsichtbar wie ein moderner, nahtverdeckter Reißverschluss
  • Das Kleid wurde so weit geschnitten, dass man es über den Kopf ziehen konnte. Die Taille wurde dann mit einem Gürtel versehen. 

Letztere Option gefällt mir persönlich nicht so gut, da der Stoff sich dann über der Hüfte arg bauscht. Ich wollte lieber ein Kleid, das richtig auf Figur geschnitten ist. Deshalb habe ich mich entschieden, in die Seitennaht einen nahtverdeckten Reißverschluss einzunähen.

Mein Fazit zum Schnitt und zur Passform

Dieses Kleid ist mal was ganz anderes – Allein wegen der Farbe. Nein, ich habe mich nicht wegen des Autos für diese Farbkombination entschieden, aber als ich entdeckte, wie gut das Kleid zur Isetta meiner Freundin passt, musste ich beide einfach zusammen fotografieren. 🙂 

Der Schnitt ist auf jeden Fall interessant und vielseitig. Das sieht man allein daran, wie anders mein Kleid im Vergleich zu dem auf dem Bild aussieht. Der eckige Ausschnitt mit dem Schrägband vorne und hinten ist ein tolles Detail und es hat Spaß gemacht herauszufinden, wie ich ihn verarbeite.

Besonders schön ist auch der sanft schwingende Rock. Dank des Futters kommt das Kleid ohne Petticoat aus. Schrägband und Borte verleihen dem Saum gerade genug Gewicht um schön zu schwingen, ohne zu schwer zu werden. Das sorgt auch dafür, dass das Kleid beim Tragen nicht so schnell knittert, bzw. sich nach dem Sitzen wie von selbst wieder entknittert.

Würde ich diesen Schnitt nochmal nähen? 

Auch wenn es viel Spaß gemacht hat, diesen Schnitt zu nähen, würde ich ihn für mich nicht nochmal umsetzen. Das Vorderteil mit dem abgesetzten Brustteil und den Abnähern sieht bei Körbchengrößen oberhalb von B einfach nicht wirklich gut aus. Um dafür ein Oberteil anzupassen braucht es nicht nur vertikale Abnäher unter der Brust, sondern auch seitlich. Die sind in diesem Schnitt nicht angedacht und da ich so viele schöne alte Schnitte mit der entsprechenden Auslegung habe, ist es mir schlichtweg zu viel Arbeit, die seitlichen Abnäher dort noch mit reinzubasteln.

Rein optisch – so finde ich – legt der abgesetzte Teil einfach sehr viel Fokus auf den Brustbereich, was bei kleinerer Brustweite mit Sicherheit besser zur Geltung kommt. Sollte ich diesen Schnitt nochmal nähen, dann eher für eine andere Person. 

Dennoch hat mir dieses Vintageprojekt sehr viel Spaß gemacht und es ist ein traumhaftes Kleid entstanden. Mit weißen Handschuhen und weißen Pumps könnte es sogar fast als Vintage-Hochzeitskleid durchgehen.

Vielen Dank an Stoffe Hemmers für die wundervolle Kooperation rund um dieses Projekt. Ich freue mich schon darauf, mit einem Eurer Stoffe irgendwann mal wieder ein Vintagekleid nähen zu dürfen.

Vielen Dank für Das Lesen dieses Beitrags. Für noch mehr Nähdetails schau gerne mal in mein Youtube-Video rein.

Deine Lasercat