Ich habe die Schleifen auf dem Foto gezählt:  Es sind 32 Stück, allein auf der Vorderseite vom Kleid. Auf das gesamte Kleid hochgerechnet komme ich also auf rund 65 handgestickte Schleifchen. Wenn ich sehr geübt bin im Sticken und pro Schleife etwa eine halbe Stunde sticke, komme ich auf 32 Stunden Arbeit, allein um den Stoff für dieses Kleid zu besticken. Und dann geht es erst los mit dem Nähen! Eindeutig ein Projekt für die passionierte Hobbyschneiderin mit viel Geduld!

 Dieses Schnittmuster stammt aus der Beyer’s Handarbeit und Wäsche Heft 5/1952. Es ist eines der wenigen Fifties-Nähmagazine die ich komplett mit Schnittmusterbogen und Anleitungsbogen besitze.

Das Material oder „Was ist Shantung?“

„Sonnengelber Shantung wurde zu diesem Hochsommerkleid verarbeitet. Die auf den Rock verstreuten Schleifchen sind mit schwarzer Seide gestickt“

„Shantung“ als Material für Kleider habe ich auch schon in diversen Nähanleitungen von Gertie (Charmpatterns) gesehen. Aber was ist das eigentlich für ein Material?

Bildquelle: https://www.stoff4you.de/stoff-lexikon/seide/

Shantung ist eine Bezeichnung für ein Seidengewebe in Leinwandbindung, das ursprünglich aus der chinesischen Provinz  Shandong stammt (Quelle). Früher wurde dieser Stoff ausschließlich aus Seide hergestellt, heute gibt es ihn aber auch aus Baumwolle oder Polyester. Shantung-Seide wird von den Kokons wild lebender, nicht züchtbarer Raupen gewonnen. Vor der Verarbeitung wird die Shantungseide nicht vom Seidenleim befreit, wodurch sich eine unregelmäßige Oberflächenstruktur ergibt. Im Deutschen nennt man das Material auch „Wildseide“
Sucht man nach Meterware aus diesem Material, findet man bei Google hauptsächlich „Dupionseide“, die ähnlich aussieht, aber eine noch unregelmäßigere Oberfläche hat als Wildseide. Dupionseide stammt meist aus Indien und wird unter fragwürdigen Bedingungen produziert und gefärbt. Wem die Herkunft und Herstellung seiner Handarbeitsstoffe wichtig ist, der sollte genau prüfen, wo die Seide für das Kleid her kommt.

In den Fifties hat das die nähbegeisterte Hausfrau mit Sicherheit nicht interessiert. Da war es eher fraglich, ob es überhaupt Seide im Stoffgeschäft gab und ob die Haushaltskasse dafür reichte. 🙂

Die Umsetzung

Wenn also nach einem Jahr mühevoller Arbeit alle Schleifchen auf die Seide gestickt sind, kann es endlich losgehen.

Das Ganze kommt in der Größe „Oberweite 88cm“. Laut der Größentabelle von 1952 entspricht das einer „40“, heute jedoch eher einer 36-38. Der erste Schritt ist daher, den Schnitt gründlich auszumessen und ggf. anzupassen auf die eigenen Maße.

Der Schnitt ist recht einfach gehalten: Das Oberteil wird mit Wiener Nähten auf Figur gebracht, die Ärmel sind angeschnitten. An das Oberteil kommt ein weiter A-Linienrock mit Taschen (Yay, #ithaspockets!)

Halsausschnitt und Kanten werden mit „Formblende“ verstürzt. Schon bei dem ersten Schnitt aus diesem Heft, über den ich im letzten Jahr geblockt habe (Siehe hier), ging es um diese mysteriöse „Formblende“. Noch immer ist es mir ein völliges Rätsel, was das sein soll und wie es umgesetzt wird. Wenn ich mir das Foto vom Kleid genau anschaue, sehe ich am Halsausschnitt und der Knopfleiste irgendwas zwischen Paspel und Beleg.

Das Kleid wird vorne mit Knöpfen geschlossen, durch die schmale Taille wäre es aber trotzdem unmöglich, es so anzuziehen. Deswegen wird auf der linken Seite am Rockteil noch ein kleiner Reißverschluss eingearbeitet. Der Gedanke, dass man die stark taillierten Kleider ohne Reißverschluss kaum anziehen kann, kam mir schon öfters beim Stöbern in alten Schnitten. Diese Anleitung hier ist jedoch die erste, in der eine Lösung für dieses Problem beschrieben wird.

Wie würde ich das heute umsetzen?

Diese Schleifchen zu sticken ist ungefähr so, wie 1000 Kraniche zu falten. Nur dass man am Ende ein Kleid hat und sich nichts wünschen darf, außer dass das Ding endlich fertig ist.

Ich persönlich, möchte nicht jahrelang an einem Stoff rumsticken. Die Schleifchen würde ich natürlich mit der Maschine sticken. Wer eine Stickmaschine hat und mir helfen will, hebe die Hand! Ansonsten gäbe es auch noch die Option, die Schleifen als fertiges Motiv zum Applizieren zu kaufen. Allein schon mit der Maschine 65 Schleifen zu sticken oder sie zu applizieren ist schon zeitaufwendig genug.

Um das zusammenzufassen:

  • Schleifen mit Maschine sticken oder Applizieren
  • Bügeleinlage für die Ausschnittkanten verwenden
  • Den Halsausschnitt mit einem Beleg verstürzen
  • Den Rocksaum etwas nach oben setzen, mir wäre das Kleid in der Original-Länge zu lang

Und damit bin ich auch schon am Ende meines „Vintageschnitts der Woche“. Ich hoffe, er hat euch gefallen und ich freue mich, Euch bald noch mehr meiner alten Schnittmuster vorstellen zu dürfen.

Eure Lasercat